Da die Fahrzeit von Bloemfontein nach Philippolis nur rund zwei Stunden betrug, mussten wir noch etwas Zeit totschlagen. Wunderbar, dass unser Weg ab Trompsburg über eine extrem schmale, schnurgeradeaus führende und kaum befahrene Landstraße (die R717) führte. Hier hielten wir im Niemandsland an und machten ein paar ganz coole Roadtrip-Fotos – von der Straße, von uns im Sitzen, von uns im Stehen und von uns im Springen. So verflog die Zeit… In dieser Ecke sahen wir auch den einzigen Pumba. Hätten wir das gewusst, hätten wir mit Sicherheit die Kamera gezückt. Nach unseren letzten Afrika-Erfahrungen waren wir aber noch stark davon ausgegangen, dass wir wieder endlos viele Warzenschweine zu Gesicht bekommen würden. Tja, so kann man sich täuschen… Aber das Sichtungsglück sollte uns dafür in vielfältiger anderer Weise hold bleiben!

Gegen 13.30 Uhr kamen wir in Philippolis an und schrieben wie vereinbart eine WhatsApp-Nachricht an die Managerin des Tiger Canyon, damit uns jemand am Gate abholen würde. Danach stand uns noch eine 27 km lange Fahrt über Schotterpisten bis zu besagtem Gate bevor. Jedoch war der größte Teil der Strecke in einem guten Zustand, sodass wir pünktlich um 14 Uhr am Treffpunkt waren. Hier erwartete uns Leon bereits. Er sollte unser privater Guide für die beiden Game Drives sein. Ein absoluter Glücksfall, wie sich herausstellte. Denn er war extrem erfahren, hatte 29 Jahre lang u.a. im Mala Mala Game Reserve und im Sabie Sands gearbeitet. Dem Tiger-Projekt hatte er anfangs – wie viele andere Guides auch – sehr skeptisch gegenübergestanden, sich aber nach einigen persönlichen Gesprächen davon überzeugen lassen, es sich mit eigenen Augen anzuschauen und der Idee eine Chance zu geben. So war er aus dem Ruhestand zurückgekehrt, um für ein paar Wochen im Tiger Canyon auszuhelfen. Unser Glück! Denn er war nicht nur fachlich extrem gut, sondern auch menschlich ein absoluter Knaller: ruhig, aber humorvoll, immer mit Erklärungen zur Stelle, aber nicht permanent quatschend. Genau so, wie es unserem Naturell entspricht. Dementsprechend erlebten wir zwei perfekte Game Drives, die mit tollen Sichtungen abgerundet wurden.

Doch bevor wir auf unsere Erlebnisse zu sprechen kommen, vielleicht noch ein paar Worte zum Artenschutzprojekt, das hier vorangetrieben wird. Denn in Deutschland weiß offenbar kaum jemand davon und selbst wenn man googelt, sind die Berichte extrem spärlich, veraltet und teilweise auch vom Informationsgehalt her falsch. Managerin Kirsty nahm sich nach dem Abendessen Zeit, uns die Entwicklung des Projekts und die Idee dahinter zu erläutern.
Der Kopf hinter dem Tiger Canyon ist John Varty, ein Dokumentarfilmer, Autor und Aktivist aus Südafrika. Besonders liegen ihm von jeher Raubkatzen am Herzen. Deshalb wollte er es nicht hinnehmen, dass das Überleben der Tiger derart gefährdet ist. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch 10.000 frei lebende Tiger, jetzt sind es noch weniger als 4.000. Zum Vergleich: Es gibt noch 7.000 Geparden und 18.000 Nashörner. Die Lage ist also mehr als heikel. So entschied er sich, den Großkatzen eine Überlebensperspektive außerhalb von Asien zu geben. Nachdem die Vorbereitungen (Genehmigungsverfahren, Landkäufe, Umzäunung etc.) abgeschlossen waren, wurde im Jahr 2000 die erste Tigerin nahe in der Karoo nahe Philippolis in die Freiheit entlassen. Sie stammte aus einem kanadischen Zoo. Um den finanziellen Part zu stemmen, gründete Varty einen Trust und kooperierte mit chinesischen Partnern. In den nächsten Jahren gingen die Ansichten über den weiteren Verlauf des Projekts allerdings deutlich auseinander und es kam so endlosen Gerichtsprozessen. Im Wesentlichen ging es dabei um die Frage „Artenschutz vs. Business“. Gut, dass sich Varty letztlich durchsetzte und von seinen fragwürdigen Geschäftspartnern distanzierte. Diese halten übrigens weiterhin in der Nähe Tiger in mehr oder weniger geeigneten Gehegen, während sie im Tiger Canyon frei umherstreifen dürfen.
Damit sind wir schon beim für uns wichtigsten Punkt. Denn wir waren durchaus skeptisch, ob wir dorthin möchten oder nicht. Ob das Projekt unterstützenswert ist, weil der Conservation-Gedanke im Vordergrund steht oder nicht. Dies teilten wir Kirsty auch mit, die wissend lächelte. Offenbar ergeht es den meisten Gästen und auch Guides so. Wer aber einmal dort war, konnte sich vom Wert des Projekts überzeugen. Den Tigern steht ein Areal von mehr als 9.000 Hektar zur Verfügung, welches durch Zukäufe stetig erweitert werden soll. Es gibt drei durch Tore abgetrennte Zonen, in denen jeweils mehrere Tiere leben. Hintergrund ist, dass einige wenige Tiere zugefüttert werden müssen und von den anderen getötet würden.
Doch bei den meisten Tigern – es ist die dritte in Freiheit geborene Generation – sind wilde Verhaltensweisen zurückgekehrt. Sie jagen selbst, sie verteidigen ihre Reviere usw. Hierüber freuen sich die Verantwortlichen ganz besonders. Denn es war ungewiss, ob sich dieses Ziel würde erreichen lassen. Für das letztendliche Ziel ist es allerdings unabdingbar. Langfristig soll mit den afrikanischen Tigern nämlich der Genpool in Asien aufgefrischt werden, wenn er zu eng geworden ist, um so das Überleben der Art sicherzustellen. Erfreulich in diesem Zusammenhang: Die Tiger haben sich vermehrt. Es leben bis zu 26 Exemplare in dem Areal.
Durch Corona steht allerdings die Finanzierung ein wenig auf der Kippe. Insofern ist es extrem wichtig, dass sich herumspricht, was hier geleistet wird, damit genug zahlende Gäste kommen. Denn sie finanzieren das Projekt ganz wesentlich mit. Auch zahlungskräftige Partner sind natürlich willkommen. Damit genug der Werbung! Es war mir nur wichtig, den Hintergrund zu erläutern und klar zu machen, dass es kein großer Streichelzoo oder ein auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen ist. Gewinn macht Varty sicherlich mit der Londolozi-Lodge genug…


Jetzt aber wirklich zurück zum Erlebnisbericht! Bei unserer Ankunft erhielten wir ein Begrüßungsgetränk und wurden aufs Zimmer gebracht. Wobei Zimmer untertrieben ist. Luxus-Suite mit Wahnsinnsausblick in den gewaltigen Canyon trifft es eher! Da es nur drei Stück gibt, herrscht hier immer eine herrliche Ruhe. Wir waren mit einem schottischen Paar, das 1973 nach Südafrika ausgewandert war, allein vor Ort. Sie waren extrem nett und wir führten viele tolle Gespräche. Nachdem wir uns eingerichtet hatten, gab es ein spätes Mittagessen (Salat und Hähnchen) und eine schnelle Dusche. Dann ging es auch schon auf den ersten Game Drive. Das Schöne: Da wir Guide und Fahrzeug für uns hatten, durften wir Wünsche äußern, wonach er Ausschau halten sollten. Die Schotten waren bereits einen Tag länger dort und wollten sich nun aufs Birding konzentrieren. Wir hingegen wollten – was auch sonst – zuerst Tiger sehen.

Um 16.30 Uhr ging es los. Zunächst fuhren wir eine gute Stunde herum, ohne ein Kätzchen zu erblicken. Das beruhigte uns, unterstrich es doch einmal mehr, dass es sich hierbei nicht um einen zu groß geratenen Zoo handelt. Dafür sahen wir aber mehrere Antilopenarten, erhielten tolle Erklärungen zu teils seltenen Vogelarten vom Birding-Enthusiasten Leon und genossen die wunderschöne Natur um uns herum.

Ein Game Drive ist halt nie ein Abhaken einer Tierliste, sondern jedesmal wieder ein spannendes und erfüllendes Erlebnis, wenn man sich darauf einlässt, es so zu nehmen, wie es kommt! Das taten wir – und wurden dafür belohnt. Denn urplötzlich rief Sara neben mir: „Stop! There is one!“ Leon bremste ruckartig, setzte zurück – und tatsächlich: Da lag direkt neben dem Weg ein gewaltiger männlicher Tiger unter einem Busch. Man hätte ihn – regungslos wie er war – auch für einen großen Termitenhügel halten können. Es war ein echtes Prachtexemplar, das uns da aus dem tiefen Gras argwöhnisch beobachtete.

Auf einmal begann er zu schnüffeln, hob den Kopf und versuchte, am Fahrzeug vorbeizuschauen. Was war da los? Wir schauten nach rechts – und erblickten einen zweiten großen männlichen Tiger! Leon setzte das Auto erneut zurück und ermöglichte so eine Interaktion. Eine solche Begegnung zweier ausgewachsener Tiger-Männchen hatte er auch noch nie gesehen. Deshalb war er sehr interesseiert und wir genossen die Situation für eine ganze Weile. Das ist auch etwas, das wir im Tiger Canyon sehr genossen haben: Man verweilt länger als anderswo bei einer Sichtung, bekommt ausreichend Zeit, zu genießen und zu fotografieren bzw. filmen. Es kommen keine anderen Fahrzeuge um die Ecke. Ein riesiger Vorteil aus unserer Sicht!

Irgendwann rissen wir uns aber doch los, drehten noch eine Runde durch den Park, klapperten Wasserlöcher ab und gönnten uns an exponierter Stelle einen Sundowner-Drink sowie einige Knabbereien.


Gegen 19.30 Uhr waren wir zurück in der Lodge, ließen uns mit einem sehr leckeren Abendessen verwöhnen, führten ausführliche Gespräche mit Managerin Kirsty (siehe oben) und den beiden Schotten und nahmen ein, zwei Getränke aus der Bar. Um 22.30 Uhr verabschiedeten wir uns schließlich und fielen hundemüde ins Bett – wissend, dass wir uns für 5.15 Uhr schon wieder mit Leon verabredet hatten. Als der Wecker um 4.30 Uhr klingelte, war die Müdigkeit schnell wie weggeblasen. Wir standen auf, wurden von Leon bereits mit Kaffee empfangen und gingen auf den Balkon der Lodge – wo sich ein magischer Moment ereignete: Die ersten Sonnenstrahlen krochen über den Rand des Canyons und in der Ferne hörten wir einen Tiger brüllen. Wahnsinn, Gänsehaut pur! Nun waren wir doppelt motiviert, endlich zum Game Drive aufzubrechen.
Doch der Morgen begann schleppend! Die Landschaft war ein Traum, aber offensichtlich war noch kein Tier aufgestanden. Nicht einmal Springböcke oder Blesböcke ließen sich blicken. Dies änderte sich gegen 7 Uhr, als wir erst einen Hasen und dann auch Zebras und diverse Antilopen sahen.

Dann ging es plötzlich Schlag auf Schlag! Wie aus dem Nichts entdeckten wir im hohen Gras eine Tigerin, die gerade Beute verspeiste. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, was es war, tippen aber auf einen Mungo. Also eher ein Frühstückshappen für den Tiger-Magen. Weil das Gras sehr hoch war, sahen wir nicht viel und beschlossen weiterzufahren.

Nach vielleicht 500m hielten wir wieder an: Unten am Wasserloch befand sich ein weiterer Tiger, der sich allerdings schnell ins Unterholz verdrückte. Gleichzeitig traf ein Funkspruch eines anderen Guides ein: Sie war allein unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen und war auf eine ganze Tiger-Familie gestoßen. Das Szenario, das uns an der beschriebenen Stelle erwartete, war wie aus einer Tierdoku: Tiger-Mutti und zwei einjährige Cubs sonnten sich im Morgenlicht auf einer felsigen Anhöhe – und auch Daddy war am Ort. Wir knipsten gefühlt eine ganze Speicherkarte voll und konnten gar nicht genug bekommen.




Nach einer Weile schlug Leon dann vor, dass wir die verbliebene Zeit nutzen könnten, noch einen Geparden aufzustöbern. Dies war allerdings – trotz der Mithilfe zweier weiterer Guides mit Fahrzeugen – gar nicht so einfach. Denn es gibt hier lediglich drei Exemplare, nachdem zwei weitere Giftschlangen zum Opfer gefallen waren. Sie leben übrigens in einem eigenen, sehr großen Areal, damit sie nicht von den Tigern umgebracht werden. Wie auch immer – gerade, als wir aufgrund des bevorstehenden Check-outs auf dem Rückweg zur Lodge waren, erwachte das Funkgerät zum Leben: Einer der Guides hatte doch tatsächlich noch einen Geparden gefunden – und dann auch noch mit soeben erlegter Beute. Leon zögerte nicht lange, klärte über Funk, dass wir das Auschecken ein wenig nach hinten legen konnten, und gab Gas.

Kurz darauf kamen wir an der fraglichen Stelle an und durften sogar aussteigen. Bis auf 10 m gingen wir an die – extrem ausgepowerte, heftig atmende – Raubkatze heran, die stolz mit dem erlegten Blesbok für unsere Kameras posierte. Dieses Erlebnis war das Sahnehäubchen auf der Zeit im Tiger Canyon. Mit Worten ist es kaum zu beschreiben.



Schweren Herzens mussten wir allerdings bald darauf zurück zur Lodge. Mit einem herzhaften, warmen Frühstück im Bauch verabschiedeten wir uns vom Team des Tiger Canyons. Leon fuhr uns noch zum Tor und wir mussten ein wenig schlucken, als es sich hinter uns schloss. Gern wären wir für mehr als eine Nacht geblieben!